Bevor ich in den Orientaljazz des heutigen Abends eintauche, und um morgen am Grünabfall-Container den Baumschnitt zu entsorgen, wieder auftauche, widme ich diese Folge gänzlich @Gedankenkammer. SOKRATES Folge 288:
So ein Gefühl wie für Entfernungen, Abstände, Ordnung im Raum hatte er für die Zeit nicht. Sein Zeitgefühl trügte ihn oft, mal verging die Zeit schneller, mal langsamer, mal wunderte er sich, dass es schon wieder Abend wurde, da er gerade eben mal gefrühstückt hatte. Dabei schlief er nicht viel, war alles andere als ein Langschläfer; er hätte der frühe Vogel sein können, der den Wurm fängt, wenn er nur gewusst hätte, was das bedeuten sollte. Benjamin @Gedankenkammer sollte bald auf die Universität, was er auch sehr gerne gewollt hätte, wenn da nicht die Scheu vor dem Chaos, der Unruhe und vor dem Neuen nicht gewesen wäre. Lieber wechselte er noch im letzten Schuljahr vor dem Abitur die Schule, weil der Leistungskurs in Informatik ihm an seiner bisherigen nicht gefiel und riskierte eine unnötige Verlängerung seiner Schulzeit, als dass er sich an der Universität einschrieb. Fachlich gab es keine Zweifel an seiner Kompetenz, auch die Noten bestätigten dies. Aber selbst seinen Lehrern war es nicht wohl bei dem Gedanken, ihn demnächst der Reifeprüfung auszusetzen. Sie mochten ihn. Sie mochten ihn sogar so sehr, dass sie ihn am liebsten im Schutzraum unter ihren Fittichen behalten hätten. Dem jedoch konnte er sich nun doch mit einem sehr rationalen Argument entziehen: «Ich würde so sehr gerne Informatik und Philosophie studieren», vermeldete er, «aber der Informatikkurs an unserer Schule...» er machte eine bedauernde Miene. «Das Einstein-Gymnasium ist nunmal besser ausgerüstet.» Dem konnte niemand widersprechen. Aber sein Mathematik-Lehrer wusste genau, dass es Ben um etwas anderes ging. Warum war dieser nette junge Mann nur so menschenscheu? «Ben, ich weiß, dass du die Schule gerne wechseln möchtest, und ich akzeptiere deine Entscheidung. Das weißt du. Ich möchte aber doch mit dir reden – nicht, um dich zu überzeugen hier zu bleiben, sondern einfach nur etwas zu klären – für dich und für mich.» Der Mathematik-Lehrer Herold Frey war mit Leib und Seele Mathematiker. Seine ganze Welt konnte aus Differentialen und Integralen bestehen, aus n-dimensionalen Räumen und aus der Menge der irrationalen Zahlen, aus Vektoren und Gleichungen mit drei Unbekannten zum Nachtisch oder als Snack nebenbei. Er zeichnete Funktionskurven an die Tafel, dass es eine reine Freude war ihm zuzusehen. Und er mochte seinen Schüler Ben. Aber Herold Frey entging keinesfalls die Unruhe, die in dem nach außen hin so ruhigen heranwachsenden jungen Mann steckte. Seine Frau hatte Ben in Chemie und Biologie. Beide Fächer waren nicht gerade seine Lieblingsfächer, aber in beiden schlug er sich recht ordentlich, bewegte sich ruhig und schweigsam im Mittelfeld und wäre nicht weiter aufgefallen, wenn nicht ihr Mann sie auf ihn aufmerksam gemacht hätte: «Schau nur; er ist so still, wie eine Mine im Wasser. Er könnte ein überdimensionaler Kugelfisch sein, aber wenn man einen seiner Zünder berührt, wird es eine Katastrophe geben.»