Kennt jemand den Ausdruck „Plot Gap“? Das sind schwarze Löcher in einer Erzählung oder Geschichte, die den ganzen Verstand aufsaugen können, und das Raum-Zeit-Kontinuum in eine neue Dimension entschwindet... SOKRATES-Folge 465:
Nadeschdas Auto sprang nicht mehr richtig an, ging an jeder Ampel und Ecke aus, außerdem war seit sechs Wochen der TÜV fällig. Sie hatte drei Kinder, das jüngste fünf Jahre alt, das älteste fünfzehn. Das fünfzehnjährige Kind war ein Sohn und nichts wünschte sich Nadeschda mehr, als dass er ein Mädchen wäre; eine Tochter hätte auf ihre jüngeren Geschwister aufgepasst, beim Haushalt geholfen und wäre auch sonst der Mutter viel näher gewesen - so jedenfalls stellte Nadeschda es sich vor. Ihr Mann war immer mal wieder da, im Grunde aber glänzte er monatelang durch Abwesenheit; wenn er mal da war, lungerte er nur in der Wohnung herum, ließ sich bedienen, spielte immer völlig geistesabwesend an seinem Handy und verzog sich irgendwann wieder so überraschend, wie er gekommen war. Mal ließ er der Familie etwas Geld da, mal sogar etwas mehr und oft eben auch keinen Cent. «Die Geschäfte sind schlecht, Nadeschda, die Geschäfte sind sehr schlecht», sagte er. Manchmal aber schienen sie auch sehr gut zu laufen. Sie wusste nicht genau, was er machte; er sagte immer «Import/Export». Manchmal machte er auch Geschäfte mit Ali, der viele Geschäftspartner aus Osteuropa und Asien hatte, meist aber wusste Nadeschda überhaupt nicht, wer die Geschäftskollegen ihres Mannes waren. Nadeschdas Bruder Igor betrieb viel Fitness, Kampfsport in einem Laden namens Crossbox und arbeitete in einer Sicherheitsfirma und suchte nur selten die Nähe zu seiner Schwester und zu den Kindern. Nadeschda war Krankenschwester und übernahm gerne Nachtdienste, weil sie dann am Vormittag, wenn die Kinder außer Haus waren schlafen und dann am Nachmittag und frühen Abend für sie da sein konnte, bevor sie ins Bett gingen und Nadeschda zur Arbeit fahren konnte. Nur der Spätdienst am Nachmittag bis in die Nacht passte ihr der Kinder wegen gar nicht. Der Bruder, ihr Mann oder ihr Sohn waren ihr meist keine große Hilfe; nur sehr schwer ließ sich der Sohn verpflichten, mal am Nachmittag auf seine Schwestern aufzupassen. Der Sohn war ihr gegenüber wortkarg, erzählte auf Nachfragen widerwillig, wie es in der Schule lief, seine Noten waren durchschnittlich, glücklicherweise machte er nicht viel Ärger. Manchmal ging er auch in diese „Crossbox“ wie sein Onkel, aber auch seine Fitnessbesessenheit hielt sich in Grenzen. Vor dem Nachtdienst konnte Nadeschda ihren Wagen zu Ali in die Werkstatt bringen und wollte, dass ihr Sohn auf die Jüngste für zwei Stündchen aufpasste, er aber, der sonst so Wortkarge, reagierte darauf mit einem Redeschwall und hielt seiner Mutter einen langen Vortrag, warum ausgerechnet heute dies ein Ding der Unmöglichkeit sei! Außerdem habe Onkel Igor angerufen, er wolle nachher vorbeikommen; er könne ja auf Julia aufpassen. «Ach, was für ein seltener Besuch», brummte Nadeschda, «warum hat er nicht mich angerufen?» «Doch! Er sagt, er hat dich angerufen, aber du gehst nicht ran, dann hat er auf Festnetz angerufen und wollte wissen, ob du da bist und ob dein Handy kaputt sei!»
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Dr. med.nerv. Otto von A bis Z